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„Die Wirtschaft würde ohne Menschen mit psychischen Störungen nicht funktionieren“

Psychische Störungen sind kein seltenes Phänomen: Im Laufe des Lebens leiden etwa 50 Prozent der Bevölkerung zumindest zeitweise unter psychischen Problemen. Jeder dritte Arbeitnehmer ist davon betroffen. Eine Kündigung ist für den Psychologen Niklas Baer dabei keine Lösung, da ein Drittel aller Arbeitskräfte fehlen würde. Der Leiter der Fachstelle für Psychiatrische Rehabilitation Baselland in der Schweiz erklärt im Interview, was Unternehmen tun können.

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Bis zu 30 Prozent aller Mitarbeiter hatten oder haben psychische Probleme. Foto: Dreamstime

Herr Baer, Sie haben eine Befragung durchgeführt, wonach Personalverantwortliche schätzten, dass bis zu 30 Prozent der Mitarbeiter psychische Probleme haben oder hatten. Wenn fast jeder Dritte betroffen ist, dann sind psychische Erkrankungen sehr häufig?

Ja und das passt auch relativ gut zur psychiatrischen Epidemiologie, wie viele Personen in der Bevölkerung psychische Störungen haben. Wenn man das über ein Jahr betrachtet, also die sogenannte Jahres-Prävalenz, dann sind es 25 bis 30 Prozent, die an einer psychischen Störung leiden. Über die ganze Lebensspanne sind es etwa 50 Prozent, die mindestens einmal eine psychische Störung haben. Dabei muss man wissen, das sind unterschiedliche Schweregrade – darunter sind auch leichtere Störungen.

Eigentlich ist es aber nicht erstaunlich, dass so viele Leute nicht nur körperliche Probleme haben zwischendurch, sondern auch psychische. Aber interessant ist: Obwohl es so häufig ist und schon leichtere psychische Störungen Auswirkungen haben auf die Produktivität, ist es bis heute selten ein Thema. Man spricht von Stress am Arbeitsplatz und über Burnout, aber über psychische Störungen spricht man selten. Ich hoffe und denke auch, dass sich das in den kommenden Jahren ändern wird.

Wenn bis zu 50 Prozent im Laufe des Lebens an einer psychischen Störung leiden, dann ist es umso erstaunlicher, dass man nicht darüber spricht?

Ich habe mich auch schon gefragt, ob es genau deswegen ist – weil es sehr häufig ist und weil es Angst machen kann, sich damit auseinanderzusetzen. Es gibt fast niemanden, der nicht entweder selbst oder im nahen Umfeld damit konfrontiert ist.

Dass es kein seltenes Phänomen ist, spiegelt sich auch in der Zahl der Krankschreibungen wider, die stark zugenommen hat. Es gibt Ihrer Aussage nach aber nicht mehr psychisch Kranke als früher. Was läuft also schief in den Unternehmen?

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Psychologe Niklas Baer, Leiter der Rehabilitations-Fachstelle der Psychiatrie Baselland. (pd)

Ja, das ist wirklich eine gute Frage, denn irgendetwas geht da vor sich. Die Krankschreibungen und Invalidisierungen in den meisten Industriestaaten nehmen zu. Also läuft in den Unternehmen etwas schief, aber an allen anderen Orten auch. Ein Grund für diese seltsame Situation ist, dass sich unsere Wahrnehmung geändert hat, was psychische Probleme betrifft. Es gibt mehr Sensibilisierung und es ist auch in den Medien ein Thema. Aber unsere Fähigkeit mit solchen Problem umzugehen, die hat sich nicht verbessert.

Die Arbeitswelt hat sich zudem verändert in den letzten Jahrzenten: Es wird Freundlichkeit, Sozialkompetenz und Flexibilität verlangt. Es gibt gewisse psychische Störungen, die genau dort Schwachstellen haben und verbunden sind mit reduzierter Sozialkompetenz. Ich bin aber froh, dass heute Sozialkompetenz gefordert wird, das ist auch ein Fortschritt. Die Arbeitswelt verändert sich nicht nur zum Schlechten, sondern auch zum Guten.

Es gibt ja unterschiedliche psychische Probleme. Klar, dass Stress und Druck ein Burnout verursachen. Welchen Beitrag leisten Arbeitspensum, Stress, Druck und Führungsstil, wenn es um andere psychische Erkrankungen, wie Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen geht?

Wenn man eine psychische Krankheit hat, dann ist man nicht immer gleich belastbar, häufig sind die Lesitungen inkonstant, wobei das auch auf die spezifische  Störung ankommt. Entscheidend für psychisch kranke Mitarbeitende ist die Beziehung zum Vorgesetzten. Das erscheint mir viel wichtiger als der Arbeitsstress und die Arbeitszeiten. Wichtig ist ein Chef, der gesprächsbereit und offen ist, der klare Vorgaben und Feedback gibt und damit Sicherheit vermittelt. Da müsste man noch viel mehr tun und die Chefs unterstützen, dass sie diese wichtige Beziehungsfunktion erfüllen können.

Allerdings gibt es ja in manchen Unternehmen noch immer die Philosophie, möglichst wenig Feedback zu geben oder zu loben, um den Mitarbeiter sogar anzutreiben?

Das ist bei Leuten mit psychischen Störungen total kontraproduktiv. Die sind eben sehr verunsichert. Die Motivation ist meist nicht das Problem, sie brauchen Sicherheit. Sie brauchen regelmässiges Feedback, damit sie wissen, wo sie stehen. Wenn es ein Lob ist umso besser – aber nur wenn es auch stimmt.

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Menschen mit psychischen Problemen sind sehr verunsichert. Foto: Dreamstime

Soziale Konflikte sind das früheste Merkmal, das gilt aber nicht für alle Störungen. Probleme im zwischenmenschlichen Bereich, wenn sich jemand zurückzieht, nicht mehr mit den anderen in die Pause geht oder auch am Arbeitsverhalten und in der Leistung wird das sichtbar. In den Absenzen zeigt es sich – wenn überhaupt erst ganz am Schluss – darauf sollte man nicht warten. Die Arbeitskollegen und Chefs spüren es an sich sehr früh, wenn etwas nicht stimmt, das Problem liegt vielmehr darin, dass sie dann lange nichts tun.

Kann es aber auch sein, dass jemand, der sich isoliert und wenig „Social Sklills“ hat, einfach nur ein Einzelgänger ist?

Als Arbeitgeber muss und soll man ja auch nicht eine psychische Störung diagnostizieren. Er muss nicht beurteilen können, ob das eine Störung ist oder nicht. Er muss ja nur seine sowieso schon vorhandene Wahrnehmung, dass da ‚etwas seltsam ist‘ ernstnehmen und dann den Mitarbeiter darauf ansprechen. Wir alle haben unsere Persönlichkeiten, das macht das Leben ja auch interessant. Solange wir mit den Arbeitskollegen einigermassen zurechtkommen und die Leistung stimmt, muss man nicht intervenieren, und solange wird auch kaum ein Chef intervenieren. Aber wenn Veränderungen auftreten, die Leistung plötzlich nicht mehr stimmt oder man als Vorgesetzter nicht mehr schlafen kann wegen eines Mitarbeiters –  dann sollte man reagieren.

Was sollten Unternehmen und Chefs tun, wenn sie solche Probleme bei einem Mitarbeiter feststellen?

Das Verhalten, das einem aufgefallen ist, sollte man klar ansprechen – wenn möglich vor dem Hintergrund einer guten Beziehung und mit Wertschätzung für die Person. Wenn man mit dieser Kombination auf den Mitarbeiter zugeht, dann kann man die Situation meist entlasten. Wenn das nichts nützt, dann sollte man dem Mitarbeiter anraten, zum Arzt zu gehen und Hilfe zu suchen.

Hat das gesellschaftliche Tabu dabei Einfluss auf den Mitarbeiter? Will er im Gespräch mit dem Chef überhaupt eingestehen, dass er ein Problem hat?

Das Tabu ist genau der Punkt, warum Mitarbeiter es ihren Chefs nicht sagen, dass sie ein Problem haben. Und das macht es so wahnsinnig schwer – auch bei Alkohol. Denn Alkohol ist ja wahnsinnig stigmatisiert. Die Lösung ist aber nicht, dass der Chef das Tabu unterstützt, sondern es anspricht: „Wenn du ein Problem hast, ist das ok, wir unterstützen dich, aber du musst etwas dagegen tun“. Man darf auch keinen Vorwurf machen, dass die Betroffenen nichts gesagt haben, denn natürlich sagt man das nicht.

Ist dabei die Kündigung für viele Vorgesetzte nicht der einfachere Weg, als Gespräche zu führen und Mühen auf sich zu nehmen?

Es gibt Leute, die aufgrund ihrer Krankheit so wenig leistungsfähig oder so belastend sind, dass es nicht anders geht. Meine Erfahrung ist jedoch, dass die Arbeitgeber immer sehr viel unternehmen, um jemanden behalten zu können. Sie machen relativ viel. Zum Teil sogar zu viel oder das Falsche und lassen sich dabei nicht professionell unterstützten. Aber es ist schon klar:Wenn jemand überhaupt nicht produktiv ist, dann geht’s halt nicht anders. Aber es fehlt nicht prioritär am Engagement der Arbeitgeber.

Psychische Krankheit und Leistungsfähigkeit oder Behinderung sind zwei Dinge, die miteinander zu tun haben, aber nicht eins zu eins. Es gibt psychische Störungen, die sind mit mehr Behinderungen verbunden. Krankheiten wie Schizophrenie und Persönlichkeitsstörungen sind mit mehr Behinderungen verbunden als Angststörungen und leichte Depressionen. Die meisten Leute mit psychischen Erkrankungen können aber gute Leistungen bringen. Wenn Sie denken, dass 50 Prozent schon einmal psychische Probleme hatten, dann geht es gar nicht anders: Die Wirtschaft würde ohne Menschen mit psychischen Störungen ja gar nicht funktionieren. Wenn die Leute gut betreut werden und angepasst sind an ihre Behinderung, dann ist die Leistungsfähigkeit meistens da, wie dies bei vielen körperlich Behinderten selbstverständlich ist, denken Sie nur an die Behinderten-Olympiade.

Und wenn die Leistung nicht da ist: Kann sich ein Arbeitgeber dahingehend überhaupt hineinversetzen, oder versucht es jener eher mit Willensappellen?

Eigentlich kann man nicht vom Arbeitgeber verlangen, dass er sich hineinversetzen kann. Was er können sollte, ist seine eigenen Grenzen zu akzeptieren, wenn normales, gutes Führungsverhalten keine Besserung bringt, und sich beraten lassen, was er tun kann. Der Arbeitgeber muss nicht alles selber wissen, er braucht die nötigen Infos. Die Ärzte unterstützen die Arbeitgeber heute noch zu wenig.

Können private Probleme wie ein Trauerfall oder eine Scheidung vorübergehende psychische Probleme auslösen? Wie sollte der Arbeitgeber damit umgehen?

Ich finde schon, dass jemand dann Nachsicht haben sollte. Bei einer Scheidung oder einem Todesfall im nahen Umfeld haben wir ja alle Verständnis, wenn jemand vorübergehend nicht mehr derselbe ist. Das ist selbstverständlich, das gehört zum normalen Umgang, dass man da Verständnis hat. Wenn man aber das Gefühl hat, das hört nicht mehr auf oder es ist mehr als nur das, dann müsste man den Mitarbeiter ansprechen und ihm sagen „ich verstehe alles, aber ich mache mir Sorgen, du kommst nicht mehr auf die Beine“.

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Psychisch kranke Mitarbeiter sind unterschiedlich belastbar. Foto: Dreamstime

Was ist zum Beispiel ein angemessener Zeitraum und ab wann muss man sich Sorgen machen?

Das ist eine schwierige Frage. Und das ist übrigens auch eine Kritik am neuen Klassifikationssystem der psychischen Störungen, zu dem jetzt neu auch die sogenannte inadäquate Trauerreaktion gehört. Also sagen wir: Es kommt darauf an, wer gestorben ist und welche Beziehung bestand. Das kann man nicht abschätzen als Arbeitgeber, da gibt es keine Kriterien. Man muss nach dem Gefühl gehen, ob und wann man das anspricht. Bei vielen Ereignissen ist es aber nicht so, dass man automatisch krank werden müsste oder nichts mehr leisten kann, die Arbeit ist oft auch ein stabilisierender Faktor. Aus der praktischen Erfahrung habe ich den Eindruck, dass die Wirkung solcher Live-Events eher überschätzt wird.

Kann es theoretisch auch sein, dass es durch solche Live-Events erst zu einer psychischen Störung kommen kann?

Ja, Live-Events können psychische Störungen auslösen. Man sieht dann aber häufig, dass vorher schon etwas da war. Das hängt auch damit zusammen, dass psychische Krankheiten sehr früh beginnen. Aber die Menschen waren mit ihrem psychischen Defizit trotzdem mehr oder weniger stabil. Man spricht dann davon, dass sie lange mit ihren psychischen Problemen kompensiert waren und sie dann durch einen besonderen Stress dekompensieren. Wir haben immer das Bedürfnis, einen klaren und möglichst ‚normalen‘ Auslöser für ein Problem zu finden, aber generell würde ich die Bedeutung von Live-Events nicht überschätzen.

Was sollten Betroffene im betrieblichen Umfeld tun, die zum Beispiel wissen, dass sie an einer Depression oder Bipolaren Störung leiden? Ist ein offener Umgang beispielsweise schon bei der Bewerbung wichtig?

Das ist eine ganz schwierige Frage. Ich glaube, es gibt keine generelle Antwort. Es kommt darauf an, ob sich die Störung auf den Arbeitsalltag überhaupt auswirkt. Dann muss man es nicht unbedingt kommunizieren. Wenn es aber jemand ist, der immer wieder überall aneckt und immer wieder seine Stelle verliert, dann kommt er kaum darum herum, es zu sagen. Er sollte es sagen und mit dem Chef eine Lösung finden. Die Leute sind wirklich in einem Dilemma, weil psychische Erkrankungen so stigmatisiert sind. Wenn sie es sagen, dann sind ihre Chancen deutlich geringer angestellt zu werden und wenn sie es nicht äussern, dann verlieren sie ihre Stelle, wenn es später zu Problemen kommt. Wenn man es kommuniziert, ist man nicht mehr unter diesem stressenden Verheimlichungsdruck. Die Frage muss man also individuell beantworten. Meine persönliche Meinung ist, dass Offenheit besser ist.

Die Fehltage steigen seit Jahren: Denken Sie, dass dies weiter zunehmen wird?

Ja, ich denke, das wird weiter zunehmen. Da die Sensibilität und Wahrnehmung psychischer Probleme ansteigt und gleichzeitig die Interventionen bei psychischen Arbeitsproblemen nicht besser geworden sind.

Dabei spielen ja vielleicht auch psychosomatische Beschwerden eine Rolle?

Das ist  – oder war es zumindest – auch einer der häufigste Rentengründe, die somatoformen Schmerzstörungen. Man weiss auch,  dass unspezifische Rückenleiden und psychische Probleme extrem häufig miteinander verbunden sind. Es gibt zum Beispiel kaum Depressionen ohne körperliche Begleitstörungen. Ich kann mir schon vorstellen, dass früher häufig Rückenbeschwerden diagnostiziert wurden, aber eigentlich war es vielleicht ein psychisches Problem. Das ändert sich langsam. Auch dadurch werden die psychiatrischen Krankenstände ansteigen. Das Thema wird auch politisch und ökonomisch immer ernster genommen. So hat die OECD 2011 ein internationales Projekt zum Thema „Mental Health and Work“ gestartet, an dem neun Länder teilnehmen. Von Dorothea Wurmbrand-Stuppach

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