In Deutschland gehören Depressionen laut Arzneimittelreport zu den häufigsten Diagnosen, gegen die Patienten ein Psychopharmaka erhalten. Der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) zufolge helfe eine Psychotherapie mehr – zumindest gegen leichte und mittelschwere Depressionen. Wie der DGPM-Experte Dr. Henning Schauenburg im Interview erklärt, sind Ärzte teilweise zu lax im Umgang mit Psychopharmaka. Für den Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität Heidelberg ist Psychotherapie das Mittel der Wahl. Von Dorothea Wurmbrand-Stuppach
Warum sollte eine Psychotherapie Vorrang haben?
Die deutschen und internationalen Leitlinien empfehlen bei leichten Depressionen eine Psychotherapie. Zum einen weil das Nutzen-Risiko-Verhältnis gegen Psychopharmaka spricht, zum anderen weil in diesem Bereich der Placebo-Effekt der Medikamente sehr deutlich über dem eigentlichen Medikamenteneffekt liegt. Bei mittelschweren Depressionen gelten Medikamente und Psychotherapie zwar als gleichwertig. Angesichts der Präferenz der meisten Patienten für Psychotherapie nehmen aber sehr viele Patienten die Medikamente nur unzuverlässig ein. Außerdem sind Medikamente erwiesenermaßen erheblich weniger nachhaltig als eine gelungene Psychotherapie.
Nach Ihrer Aussage weicht der Alltag bei der Behandlung von Depressionen in deutschen Arztpraxen teilweise erheblich von den Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften ab. Sind Ärzte zu lax im Umgang mit Psychopharmaka?
Ja, das kann man so sagen. In Kanada hat eine Studie gezeigt, und dies dürfte in Deutschland nur unwesentlich anders sein, dass 67 Prozent der Menschen, denen ärztlicherseits ein Antidepressivum verordnet wurde, nicht die Kriterien einer depressiven Störung erfüllten, sondern höchstens die einer Anpassungsstörung, bei der Medikamente nicht indiziert sind.
Sind Betroffene dabei ohne weiteres dazu bereit, Psychopharmaka zu nehmen – haben Patienten also kaum Angst vor Nebenwirkungen oder Persönlichkeitsveränderungen?
Depressive Patienten präferieren, wie gesagt, nach neueren Untersuchungen eindeutig Psychotherapie. Allerdings sind bestimmte Befürchtungen, wie Abhängigkeit oder Persönlichkeitsveränderungen durch Antidepressiva unbegründet. Körperliche Nebenwirkungen unterschiedlicher Art gibt es natürlich, und teilweise auch psychische, wie zeitweilige Unruhe.
Laut DGPM wird der Großteil der Patienten mit Depressionen in Hausarztpraxen behandelt, wo Medikamente verschrieben, aber keine Psychotherapien durchgeführt werden können?
Das ist bekannt. Hausärzte sind für die Versorgung von depressiven Patienten eine enorm wichtige Anlaufstation. Diese müssen oft entscheiden, wann Sie jemanden ärztlich begleiten und auf die Selbstheilungskräfte der Patienten vertrauen können und wann sie, trotz Wartezeiten, eine reguläre Psychotherapie empfehlen bzw. dann auch die Patienten hierzu gewinnen müssen. Denn diese Therapieplätze müssen sich die Betroffenen selber suchen.
Warum werden Patienten vom Hausarzt nicht umgehend zum Experten verwiesen?
Das werden sie in hohem Maß. Aber nicht so viele, wie nötig. Das liegt daran, dass wir zu wenig Psychotherapeuten haben, außerdem daran, dass Patienten diesen Weg scheuen und zuletzt gibt es leider auch manche Hausärzte, die Psychotherapie für unwirksam halten, was nachgewiesen nicht stimmt.
Spielt dabei auf der Seite der Patienten eine Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen eine Rolle?
Ja, das ist eine Angst, die häufig besteht, egal welche Therapie zur Anwendung kommt. Auch heute noch, wo öffentlich ja mehr Verständnis besteht, als vor z.B. 20 Jahren.
Was sind eigentlich die Anzeichen und Symptome einer Depression?
Im alltäglichen Erleben vor allem Freudlosigkeit, Antriebslosigkeit, bedrückte Stimmung und bei stärkerer Ausprägung Schlafstörungen, Konzentrationsmangel und massive Selbstwertzweifel bis hin zu Suizidgedanken.
Ist es für Patienten schwierig, diese Anzeichen richtig zu deuten und zum Arzt zu gehen, z.B. gerade bei leichten Depressionen?
Die meisten Menschen haben ein gutes Gespür, ob ihre Befindlichkeit ein vorübergehendes Stimmungstief ist, oder sich zu etwas Problematischem auswächst. Dennoch erleben wir oft, dass gerade leicht depressive Patienten, denen therapeutisch besonders gut geholfen werden könnte, sagen: „Anderen geht es doch viel schlechter, ich muss mich nur zusammen reißen“. Was aber per Definition bei einer Depression nur vorübergehend mal funktioniert.
Gibt es Informationen über eine Dunkelziffer – also Menschen mit Depressionen, die überhaupt nicht behandelt werden?
Ja, man kann davon ausgehen, dass etwa die Hälfte aller klinisch depressiven Menschen überhaupt nur zu Ärzten, Therapeuten, Seelsorgern oder anderen helfenden Personen Kontakt haben. Und von dieser erfährt auch nur ein kleinerer Teil Hälfte eine angemessene Behandlung.
Freud sagte: „Wer nach dem Sinn des Lebens fragt, ist krank“. Gibt es für Sie einen Gradmesser, wann eine Person ärztliche Hilfe benötigt?
Eine schwierige Frage: Das hängt von vielen Aspekten ab, z.B. von der zeitlichen Dynamik. Manche Hilflosigkeit löst sich für Menschen ja dann Gott sei dank oft auch aus eigener Kraft bzw. mit der Hilfe von Freunden und Familie. Aber wenn der Rückzug aus dem sozialen Leben offensichtlich, zunehmend und langanhaltend ist oder wenn ein wichtiger Lebensschritt aus Angst und Niedergeschlagenheit nicht gewagt wird, dann z.B. sollte man sich klar machen, dass es Menschen gibt, die von solchen Sachen etwas verstehen und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit helfen können.
Über Prof. Dr. Henning Schauenburg
Henning Schauenburg ist Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität Heidelberg und Stellvertreter des ärztlichen Direktors der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg. Als Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Arzt für Psychosomatische Medizin, Psychoanalytiker (DGPT) und als analytischer Familientherapeut ist er ein Experte auf dem Gebiet der Psychotherapie. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen unter anderem auf der Psychotherapie bei Depressionen. Dr. Schauenburg ist zudem Ausbildungsleiter am Heidelberger Institut für Psychotherapie.